Die Sonne steht hoch am Himmel und Pia liegt im grünen Gras und döst, als sich eine Person über sie beugt und einen Schatten auf ihr Gesicht wirft.
Hutmacherin: Willst du hier noch lange herumliegen? Du verschläfst noch den ganzen Tag!
Pia: Hu?
Träge öffnet sie ihre Augen und blinzelt ihr Gegenüber an. Über Pia gebeugt steht eine schlanke Frau, mit hohen Stiefeln, enger Hose, eine weiten Bluse und einem großen Hut.
Pia: Wie spät ist es denn?
Hutmacherin: Spät genug, du Schlafmütze! Der Meister wartet bereits.
Pia: Ist ja gut, ich komme gleich.
Hutmacherin: Nein, ich kenne dein ‘gleich’! Du kommst jetzt und ich gehe nicht, ehe du nicht deine Aufgabe beim Meister abgeholt hast.
Pia setzt sich geschlagen auf und seufzt.
Pia: Kann ich denn nicht auch mal einen freien Tag haben?
Hutmacherin: Frei? Frei hast du schon die anderen 16 Stunden am Tag. Irgendwann musst du ja auch mal etwas sinnvolles tun!
Pia: Gar nicht wahr! Da muss ich zur Schule, hab Hausaufgaben und…
Hutmacherin: Hör auf zu jammern. Na los.
Die Hutmacherin reicht Pia ihre Hand, die Pia mit einem Lächeln annimmt. Als sie steht breitet sich ein freches Grinsen auf ihrem Gesicht aus.
Pia: Wer zuerst am Tor ist!
Ohne eine Antwort abzuwarten läuft sie los. Die Hutmacherin schaut ihr verdutzt hinterher, ehe sie die Verfolgung aufnimmt.
Hutmacherin: Ohne Überraschungsmoment traust du dich wohl nicht, mich herauszufordern, was?
Pia: Ich nehme jeden Vorteil, den ich kriegen kann!
Lachend läuft Pia den unbefestigten Weg entlang ins Dorf hinein, bis sie vor einem großen, dunklen Tor halt macht. Sie ist völlig aus der Puste.
Pia: (keucht) Erster!
Hutmacherin: Ausnahmsweise.
Pia: Dafür … bist du … nicht mal halb so sehr … aus der Puste wie ich.
Pia beugt sich nach vorn und stützt ihren sich mit den Händen auf ihren Knien ab.
Hutmacherin: Tja, Übung macht den Meister. Ich hab dir schonmal gesagt, dass du mehr trainieren solltest.
Pia: Vertane Zeit… ich bin ein Hoffnungsloser Fall.
Die Hutmacherin verdreht die Augen.
Hutmacherin: Wenn du meinst. Bereit?
Die Hutmacherin hebt die Hand, um an der großen, bronzenen Glocke neben der Eingangstür zu läuten. Pia hebt die Hand und signalisiert ihr, noch einen Moment zu warten. Nach einem kurzen Moment richtet sie sich auf und holt tief Luft.
Pia: Jetzt.
Die Hutmacherin läutet die Glocke.
Stimme: Wer stört?
Die Tür öffnet sich einen Spalt und ein bärtiges Gesicht blickt aus eisblauen Augen hinaus auf die Straße.
Meister: Ihr seid es. Ihr seid recht spät.
Pia schaut peinlich berührt zu Boden und die Hitze steigt ihr in den Kopf.
Pia: Ich…
Hutmacherin: Wir haben beim Lauftraining die Zeit vergessen.
Meister: Na dann. Sei es drum. Nun seid ihr ja da.
Pia: (flüstert) Danke.
Die Hutmacherin zwinkert ihr zu.
Hutmacherin: Wozu sind denn Freunde da?
Der Meister öffnet den beiden die Tür und bedeutet ihnen mit einem knappen Kopfnicken, einzutreten. Pia und die Hutmacherin folgen ihm in das Innere eines langen Flures, welcher am Ende in eine einzelne Tür mündete.
Pia: Welche Aufgabe werdet ihr mir heute geben?
Meister: Nur Geduld.
Schweigend gehen sie den Gang hinunter. Er öffnet die Tür und sie treten in einen spärlich beleuchteten Raum ein. An den Wenden stehen Regale voller Bücher und auf den Schreibtischen türmen sich Notizbücher, Skizzen und lose Pergamentpapiere. Der Meister tritt an an einen Tisch heran und legt bedächtig einige Notizen zur Seite.
Anschließend dreht er sich um und blickt Pia in die Augen.
Meister: Ich benötige drei Glasperlen aus dem blauen Strom.
Pia: Glasperlen?
Er richtet den Blick auf die Hutmacherin.
Meister: Begleite sie zum weißen Ufer.
Hutmacherin: Natürlich.
Pia: Wo ist das weiße Ufer.
Hutmacherin: Psst.
Meister: Nun geht. Ich erwarte euch bis Sonnenuntergang zurück.
Noch ehe Pia weitere Fragen stellen kann, schiebt die Hutmacherin sie zurück auf den Gang.
Pia: Was denn für Glasperlen?
Hutmacherin: Im blauen Strom, dem Fluss am östlichen Rand des Dorfes, gibt es Perlen, die wie Glas schimmern. Und davon sollst du dem Meister drei bringen.
Pia: Aber woher kommen sie? Von Perlen in einem Fluss habe ich noch nichts gehört.
Hutmacherin: Sie sind ziemlich selten. Die Nixen weben sie aus dem Sonnenlicht. Im fließenden Wasser werden sie jedoch nie größer als ein paar Zentimeter. Gerüchten zufolge soll es im grünen See sogar Faustgroße Perlen geben.
Pia: Die würde ich gern mal sehen.
Hutmacherin: Nicht nur du. Aber jetzt müssen wir erstmal drei kleine Perlen für den Meister finden. Keine Sorge, ich helfe dir. Das kriegen wir schon hin.
Sie verlassen den Gang und treten wieder auf die Straße hinaus. Die Hutmacherin zieht vorsichtig das Tor ins Schloss, bis es einrastet.
Hutmacherin: Na dann, auf zum Fluss.
Pia nickt und zusammen gehen sie die Straße hinunter. Sie biegen um ein paar Ecken und als sie am letzten Haus vorbei gehen, kann Pia bereits das Rauschen des Flusses hören.
Pia: Bei der Strömung wird das ja eine sportliche Glanzleistung.
Hutmacherin: Das würde dir mal ganz gut tun. Aber nein, wir versuchen es dort drüben.
Sie zeigt in Richtung stromaufwärts. Dort macht der Fluss einen Bogen und sammelt sich in einem kleinen See. Der Sand am Ufer war Schneeweiß.
Pia: Das sieht ja regelrecht idyllisch aus.
Hutmacherin: Mach dir mal keine Hoffnungen. Stille Wasser sind tief.
Am Ufer angekommen zieht die Hutmacherin ihre Stiefel aus und Pia folgt ihrem Beispiel und öffnet die Schleife ihre Schnürsenkel.
Hutmacherin: Meine Güte, so neu sind die Schuhe doch auch nicht mehr.
Pia: Meine Oma meint, man muss mit seinen Schuhen pfleglich umgehen. Sie schimpft, wenn ich die Schnürsenkel nicht ordentlich aufmache.
Hutmacherin: Aber jetzt ist sie doch nicht hier.
Schulterzuckend streift Pia ihre Turnschuh ab.
Pia: Ich habe gar keine Badesachen dabei.
Hutmacherin: Na und? Die Sonne steht hoch, deine Sachen werden schon trocknen, wenn wir fertig sind.
Ohne auf Pia zu warten, watet die Hutmacherin ins Wasser. Verdutzt folgt Pia ihr zum Wasser. Als sie ins klare Wasser des Flusses tritt, zuckt sie zurück.
Pia: Das ist ja ganz kalt.
Hutmacherin: Hab dich nicht so.
Ohne zu zögern taucht sie unter.
Pia: Na super.
Missmutig bespritzt Pia sich Arme und Gesicht mit dem kalten Wasser.
Pia: Und runter…
Zögerlich taucht Pia schließlich unter die Wasseroberfläche. Als sie die Augen öffnet, findet sie sich in einer bläulich schimmernden Welt voller bunter Fische und grüner Algen wieder. Etwas weiter entfernt sieht sie die Hutmacherin, welche bereits am Grund des Flusses zwischen den Algen nach den geheimnisvollen Perlen sucht. Auch Pia lässt nun den Blick schweifen. Ein Glitzern zwischen zwei mit Algen überzogenen Steinen erweckt Pias Aufmerksamkeit. Erfreut schwimmt sie hinüber. Als sie die Perle aufnimmt, scheucht sie einen Schwarm kleiner Fische auf, der nun direkt auf sie zu kommt.
Erschrocken steigt Pia an die Wasseroberfläche auf, wo sie keuchend nach Luft schnappt. Zwei Meter weiter taucht auch die Hutmacherin auf.
Hutmacherin: Hast du was gefunden?
Pia: Ich glaube schon.
Mit den Füßen strampelnd hält sie die Perle hoch und betrachtet sie im Sonnenschein. Die Hutmacherin nickt und nähert sich ihr mit einem kraftvollen Schwimmzug. Sie hält Pia ihren umgedrehten Hut hin.
Hutmacherin: Hier können wir sammeln. Eine habe ich auch schon gefunden.
Pia: Also noch einmal runter?
Hutmacherin: Genau.
Die beiden holen tief Luft und tauchen Kopfüber wieder unters Wasser. Sie schwimmen weiter vom Ufer weg, doch als sie wieder auftauchen, haben sie nichts gefunden. Pia hält die Luft an, um die Wasseroberfläche nicht zu brechen und schwimmt weiter, den Blick auf den Boden des Flusses gerichtet. Nach ein paar Sekunden muss sie jedoch die angehaltene Luft wieder ausatmen. Als sich die Wasseroberfläche wieder beruhigt, weckt erneut ein Funkeln am Grund ihre Aufmerksamkeit. Sie holt erneut tief Luft und taucht hinab auf das Funkeln zu. Zwischen langen Algen liegt die Perle verborgen. Sie ist etwas kleiner, als die erste Perle, die sie gefunden hatte, doch es gelingt ihr dennoch, sie zu bergen. Wieder an der Wasseroberfläche schwimmt sie hinüber zur Hutmacherin.
Pia: Geschafft.
Sie hält die dritte Perle in die Höhe.
Hutmacherin: Sehr gut! Zurück zum Ufer?
Nachdem Pia die Perle ebenfalls im Hut der Hutmacherin verstaut hat, schwimmen die beiden zurück zum Ufer.
Hutmacherin: Gut, dass es so schnell ging, ich muss auch gleich weg.
Pia: Oh, das ist schade.
Pia blick hinab auf den Hut.
Pia: Wie trage ich dann die Perlen zum Meister?
Hutmacherin: Da mach dir keine Sorgen. Ich leihe dir meinen Hut.
Die Hutmacherin kramt in ihrer Hosentasche und holt eine Häkel-Mütze in kräftigem Rot hervor, welche sie sich über das nasse Haar streift.
Pia: Wo hast du die denn versteckt?
Hutmacherin: Geheimnis.
Die Hutmacherin lachte.
Hutmacherin: Du solltest die Perlen jetzt lieber zum Meister bringen.
Pia: (nickt) Na klar. Da wird er staunen, dass es so schnell ging.
Voller Vorfreude auf das Gesicht des Meisters läuft Pia auf ihre Turnschuhe zu.
Stimme: Pia!
Verwirrt dreht sich Pia um. Sie stolpert über ihre eigenen Füße und schließt die Augen. Mit einem schmerzhaften Aufprall landet sie auf dem Boden.
Verschlafen öffnet Pia ihre Augen, als sich die Tür zu ihrem Zimmer öffnet.
Großmutter: Pia? Alles in Ordnung?
Pia: U-hu.
Großmutter: Was machst du denn auf dem Boden?
Pia (nuschelt): Ich bin aus dem Bett gefallen.
Großmutter: Hast du dir weh getan?
Sie geht auf Pia zu und hilft ihr, sich aus der Bettdecke zu befreien.
Pia: Nein, alles gut. Nur die Glasperlen sind jetzt bestimmt kaputt.
Großmutter: Die was? Wovon sprichst du schonwieder?
Pia: Na die Glasperlen, die die Nixen aus dem Sonnenlicht weben.
Großmutter: Ach Pia, du hast schonwieder geträumt. Los, zieh dich an und dann komm Frühstücken. Der Schulbus fährt in einer halben Stunde.
Pia (erschrocken): Was? Warum habt ihr mich nicht eher geweckt?
Großmutter: Das haben wir versucht, aber du hast nicht reagiert.
Die Großmutter geht wieder zur Tür hinaus, während Pia panisch zum Kleiderschrank hastet.
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