Wahrscheinlichkeiten

Projekt Shortstories 2009 – 2. Ziehung.

Note: Ich bin mit dieser Geschichte recht unzufrieden. Ich mag den Anfang, doch das Ende mag mir so gar nicht gefallen. In solchen Fällen tendiere ich oft dazu, das Ende gar nicht erst zu schreiben. Doch der gute Vorsatz lautete ja: Schreiben, schreiben, schreiben.

***

Halb schlitternd halb rennend hastete Sina den glatten Bürgersteig entlang. Ihr Atem lag wie schwerer Dampf in der Luft, während sie keuchend versuchte, nicht den Halt zu verlieren. Fast da. Sie schlängelte sich durch die dicht stehenden Autos auf dem Parkplatz und war erleichtert, endlich den bereits gestreuten Pfad zum Eingang des Gebäudes erreicht zu haben. Auf den letzten Metern erhöhte sie das Tempo. Jappsend zog sie die schwere Tür auf und schlüpfte hinein in die Stille. Die Vorlesung hatte längst begonnen und alle Türen waren geschlossen. Sie eilte weiter, bis sie schließlich vor der Tür des Audimax stand. Sie holte tief Luft und seufzte. So lautlos wie möglich, öffnete sie die Tür, welche kurz danach wieder laut ins Schloss fiel. Die Stimme des Professors erstarb für einen Moment, als sie den Raum betrat. Im hinteren Teil des Hörsaals entdeckte sie ihre Freundin Julie. Peinlich berührt lief sie schnellen Schrittes auf die letzte Bankreihe zu und setzte sich.

„Wo war ich stehen geblieben, bevor mich ihre Kommilitonin unterbrach?“, versuchte der ältere Mann das Gemurmel der Studenten zu übertönen. Sina hatte keine Ohren für ihn, als er mit monotoner Stimme seinen Faden wieder aufgriff.

Wieder zu spät.

Geräuschlos wickelte sie den langen Schal ab, legte die Mütze auf das Pult und schob den Mantel ihre Schultern hinunter. Noch immer konnte sie kaum ruhig atmen und das Herz schlug ihr im kräftigen Rhythmus gegen die Brust. Sie streckte ihren Rücken bis sie das erwartete, bekannte knackende Geräusch vernahm und sank wieder in sich zusammen.

Warum fiel es ihr nur so schwer, morgens aufzustehen?

„Bist du jetzt extra wegen Mathe noch gekommen?“ Sina blickte zu ihrer Freundin Julie, die in der Reihe vor ihr saß, und nickte. „Aber du bist doch in der anderen Englischgruppe. Das ist doch heute deine einzige Vorlesung?“ „Und?“ Sina verstand die Logik ihrer Freundin oft nicht, die es nie für nötig hielt, für einen einzelnen Block extra zur Hochschule zu kommen. Wäre es ein anderes Fach gewesen, hätte Sina ihr wohl zugestimmt, doch Mathe hatte sie noch nie verstanden. Im Grunde hätte es keinen Unterschied gemacht, ob sie ihre Zeit nun in der Hochschule absaß oder nicht, doch es beruhigte ihr Gewissen und so konnte sie gegenüber ihrer Mutter im Falle eines erneuten Durchfallens doch wenigstens sagen, sie sei immer da gewesen.

Mit verständnislosem Blick drehte sich ihre Freundin wieder von ihr weg. Nachdem Sina auch nach dem Versuch intensiven Zuhörens noch immer nicht verstand, was der Logarithmus mit einem Exponenten zu tun haben sollte, holte sie Papier und Stift heraus und begann zu malen. Es war ihr einziger Weg, ihre Gedanken an den Ort zu binden. Beim Zeichnen musste sie nicht viel denken, ihre Hand führte die geübten Striche ohne große Probleme aus, während die Ausführungen des Professors bedeutungslos an ihr vorbeizogen.

Sie konnte ihre Erleichterung kaum verbergen, als der Mann sie endlich alle in die Freiheit entließ. Zusammen mit Julie und einigen anderen Mädchen machte sie sich auf dem Weg zur Bibliothek. Während sie in ihren Träumen längst in verwunschene Länder floh, konnte eines der Mädchen, eine sehr ehrgeizige und übereifrige Person ihren Ärger über den Professor nicht länger verbergen.

„Dieser hochnäsige, verkorkste Drecksack“, empörte sie sich. „Tut so, als wären wir die letzten Idioten, statt sich mal an die eigene Nase zu fassen.“ „Also ich finde ich ihn eigentlich ganz nett.“, versuchte Sina ihn in Schutz zu nehmen. „Aber verstehen tust du auch nichts.“, fauchte das Mädchen zurück. „Hey, mal langsam.“, Julie schaltete sich ein. „Ich meine, wenn er nicht permanent behaupten würde, unsere Intelligenz würde von der Wand bis zur Tapete reichen, dann hätte ich eigentlich keine weiteren Probleme mit ihm.“ „Aber das ist es doch eben! Er schiebt es alles auf uns, statt seine Lehrmethoden zu überdenken.“ „Oh ja, besonders letzte Woche, als er uns mit seinen Wahrscheinlichkeiten nervte, habe ich einfach nichts verstanden.“ „Man müsste einfach mal die Staatslotterie überlisten und seine Theorien widerlegen.“, warf Sina ein. „Das ist es!“, rief Julie aus. „Wir können doch jeder ein Los kaufen und unterschiedliche Zahlen angeben. Vielleicht gewinnt dann tatsächlich jemand von uns?“ „Ihr Träumer. Ich sage nicht, dass es nicht stimmt, was er sagt, nur dass er es anders erklären müsste.“ „Heißt das, du machst mit?“, unterbrach Sina. „Nein, ich muss so schon jeden Cent zusammenkratzen, da kann ich nicht noch ins Glücksspiel investieren.“ „Dann nicht.“ Schultern zuckend trennten sich die beiden Freundinnen von den anderen.

„Was sagst du, versuchen wir’s?“, fragte Julie übereifrig. Sie war immer so leicht zu begeistern, dass Sina unweigerlich schmunzeln musste. „Na klar. Dafür verzicht ich heute auch mal auf’s Mittag.“ „Das Zeug in der Mensa kann man sowieso nicht essen.“, kommentierte Julie grinsend zurück.

Sie gingen gemütlich die Straße entlang zu der Poststelle, von der sie wussten, dass sie ebenfalls Lose anboten.

„Wir wollen Lotto spielen.“, erklärte Sina trocken. Die Verkäuferin beäugte sie misstrauisch. Offensichtlich passten die Mädchen nicht in das Klichee herkömmlicher Lottospieler. „Da muss ich vorher mal eure Ausweise sehen, unter 18 geht hier nichts.“ Sina rollte die Augen, sie verstand nicht, warum sie selbst mit 20 noch bei jeder Gelegenheit ihren Ausweis zücken musste. Auch Julie holte ihr Portmonaie hervor und legte ihn selbstsicher auf den Tisch. Nickend akzeptierte die Verkäuferin. „Möchten Sie die Zahlen vom Computer auswählen lassen oder selber ankreuzen?“ Etwas überfragt schauten sich die Mädchen an, als Julie das Wort ergriff: „Wir machen das selbst.“ „Gut.“

Nach einer halben Stunde – so lange hatte es gedauert, bis die Freundinnen sich auf die Zahlen einigen konnten – verließen sie das Geschäft. „Kommst du noch mit in die Bibliothek?“ Sina schüttelte den Kopf. „Nein, ich wird nach Hause gehen und hoffen, dass mein kleiner Bruder mir was vom Essen übrig gelassen hat.“ „Na dann, viel Glück. Bis morgen und nicht vergessen, heute Abend die Lottozahlen gucken!“ Winkend entfernte sich Julie von ihrer Freundin und Sina drehte sich zum Heimweg um.

***

Gelangweilt stand Sina vor der verschlossenen Tür des Seminarraums. Die Hände lässig in der Manteltasche konnte niemand sehen, wie sie ein Stück Papier fest umklammerte. Es hatte tatsächlich geklappt. Sechs Richtige. Das hieß natürlich, dass Julie nicht so viel Glück gehabt hatte, doch sie würde es Teilen. Ohne ihre Begeisterung hätte Sina ihre fixe Idee wohl nicht in die Tat umgesetzt.

Der Rucksack zog an ihren Schultern und sie merkte, wie ihr Rücken zu schmerzen begann. Genervt setzte sie ihn ab. Warum war denn noch niemand da? Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es noch genau 20 Minuten waren, eh die Vorlesung beginnen würde. So früh war sie sonst nie da. Nervös verlagerte sie das Gewicht von einem Bein aufs andere und wieder zurück. Konnte Julie nicht auch einfach zu früh kommen? Der Bügel ihres BHs scheuerte gegen ihre Haut. Sie hatte noch nie verstanden, warum gerade sie immer ein solches Glück bei der Auswahl ihrer Unterwäsche hatte. Die ganze Situation machte sie unruhig. Sie wollte es jemandem erzählen, wollte über ihr Glück sprechen, doch es war niemand da.

Sie setzte den Rucksack ab und schaute sich um. Niemand in Sicht. Da konnte sie auch gut und gerne schnell auf Toilette gehen. Gesagt getan. Sie stellte den Rucksack in eine Ecke und flitzte auf die nahe gelegene Damentoilette.

Als sie wieder heraustrat hörte sie bereits Stimmen ihrer Kommilitonen. Zu ihnen hastend griff sie nach ihrem Rucksack und zog Julie, die in einer Clique bei den anderen Mädchen stand, zur Seite.

„Wir haben gewonnen!“, flüsterte sie aufgeregt. „Gewonnen?“ „Ja, ich habe sechs Richtige, sechs!“ Völlig überrumpelt öffnete Julie ihren Mund, doch es kam kein Wort heraus. „Lass uns nach der Vorlesung gleich in den Laden gehen, ja?“ Julie nickte. „Und kein Wort zu den anderen – muss ja nicht gleich jeder wissen.“ Julie nickte abermals.

Der Professor trat in das Durcheinander der Studenten und schloss den Raum auf. Die jungen Männer und Frauen stürmten den Raum, am Jackenständer vorbei, der sich immer mehr füllte. Sina hatte kaum noch Platz für ihren Mantel.

Marketing zog sich wie eine undurchsichtige Nebelsuppe an ihre vorbei. Anders als sonst konnte Sina sich kaum für die Anekdoten und Geschichten des Professors begeistern, der seine Erfahrungen mit solcher Begeisterung an seine Schützlinge weitergab, dass selbst in der letzten Reihe noch alle versuchten, seine Worte zu verstehen. In Gedanken war Sina schon in dem Geschäft und erträumte sich, wie sie einen Goldkoffer voller Scheine übergeben bekam. Sie träumte von Urlaubsreisen in ferne Länder, Tauchkursen, Kunstwerken und Freizeitparks. Einem großen Haus mit eigenem Pool und eine Katze. Sie wollte schon immer eine Katze haben, doch dafür gab es in ihrer Familie kein Geld.

Lustlos kramt sie in ihrer Federtasche, doch selbst das Malen, ihr übliches Geheimrezept, kann ihre Gedanken nicht beisammen halten. Sie träumt sich in teure Kleider, Pelzmäntel und hochhackige Stiefel. Und im Sommer würde sie jeden Tag eine andere Sonnenbrille tragen, nicht mehr das billige Plastikgestell vom letzten Ostseeurlaub. Und nie wieder diese billigen Badelatschen, die ihr die Füße wund rieben. Sie freute sich auf die Schätze, die sie sich bald leisten können würde, wie ein kleines Kind, für das Weihnachten und Ostern auf einen Tag gefallen sind.

„Sina kommst du?“ Julie rüttelte an ihren Schultern. Aus ihren Gedanken hochschreckend merkte Sina, dass der Raum bereits halb leer war. Eilig räumte sie ihr Schreibzeug zurück in ihre Tasche und eilte mit Julie aus dem Raum. „Moment.“, fiel es Sina plötzlich ein und sie langte am Jackenhaken nach ihrem Mantel. Hastig rannten sie zum Geschäft, wo sie dieses Mal eine ältere Dame begrüßte.

„Wir haben gewonnen!“, keuchte Sina. „Ja, sie hat sechs Richtige.“, fügte Julie hinzu. „Ganz ruhig, Mädchen. Zeigt mir erstmal euren Schein.“ Sie nickten und Sina ließ ihre Hand in ihren Mantel gleiten. Ihr Gesicht wurde kreidebleich. „Er ist weg!“ Die Worte kamen nur leise über ihre Lippen. „Was?“ „Er war in der linken Jackentasche, ich weiß es genau.“ Sie prüfte die rechte Tasche. „Mein Portmonaie ist auch weg.“ Die Frau blickte die beiden misstrauisch an. Es war sicher nicht das erste Mal, dass ihr jemand vorgaukeln wollte, er hätte etwas gewonnen. „Bei Diebstahl sollten Sie einfach die Polizei verständigen.“, kommentierte sie das Geschehen nüchtern.

Am Boden zerstört ließ sich Sina von ihrer Freundin aus dem Geschäft führen. All ihre Träume waren wie eine Seifenblase vor ihrem inneren Auge zerplatzt. „Lass uns zum Raum zurückgehen, vielleicht ist es ja heraus gefallen.“ Doch sie fanden nichts. Weinend kauerte sich Sina auf den Boden, als ihre Freundin plötzlich stutzte. „Sag mal, du hattest doch deine Knöpfe rot angemalt, oder?“ Verwirrt schaute Sina zu ihr hinauf. „Ja, weil diese Henrike sich doch den gleichen Mantel wie du gekauft hatte, hattest du deine Knöpfe letzte Woche doch rot angemalt.“ Sina nickte und schaute auf den Mantel hinab. Die Knöpfe waren schwarz.

„Sie ist bestimmt mit den anderen in der Mensa. Komm!“ Die Mädchen sprangen auf und eilten über den Campus. Im Essenssaal fanden sie schließlich die Mädchen mit ihren teuren Schuhen und lackierten Fingernägeln. Sina wischte sich die Tränen aus dem Gesicht – die Blöße konnte sie sich nicht geben – bevor sie auf den Tisch zugingen. „Entschuldige. Henrike? Ich glaube, du hast versehentlich den falschen Mantel mitgenommen.“, erklärte Julie ruhig und deutete auf ihre Freundin. „Ja, habe ich bemerkt, ich wusste nur nicht, zu wem er gehört. Er sah so aus wie meiner, nur diese Knöpfe.“ Sina nickte und zog den Mantel aus. „Das hier ist deiner.“ Bereitwillig tauschte ihr Gegenüber. Erneut ließ Sina ihre Hände in die Taschen gleiten. Ja, da war das kleine Lock an der oberen Nat und auch ihr Portmonaie. Ohne Zweifel, das war ihr Mantel. Doch der Schein fehlte. „Hast du, hast du zufällig ein Stück Papier in der Manteltasche gefunden?“ Henrike, die ihren Mantel überprüfte, antwortete ohne aufzublicken. „Ja, ich hab ihn weggeworfen.“ „Wo?“, fragten beide nachdringlich. „Keine Ahnung? Ich war in der Bibliothek und beim Infopoint, beim akademischen Auslandsamt und bei Herrn Metzinger. Und danach noch bei der Bäckerei. Ich weiß es wirklich nicht, es könnte überall gewesen sein.“

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