Verschleppt.

Sie war gerade neunzehn geworden. Hineingewachsen in eine geteilte Gesellschaft, half sie jenem, den sie liebte, beim Widerstand gegen die Regierung. Es war der erste Januar eines neuen Jahres, Schnee bedeckte den Dreck der Straßen und die Kälte schlich sich unter ihre Kleider. Auf leisen Sohlen schlich sie aus dem Haus ihrer Eltern und huschte unbemerkt durch die Straßen. An einem alten Lattenzaun blieb sie stehen und schaute die Straße hinunter, um sicher zu gehen, dass sie auch niemand sah. Mit zittriger Hand drückte sie gegen einen Balken, der sofort nachgab und ihr einen schmalen Durchgang frei machte. Dünn wie sie war, kroch sie geräuschlos hindurch. Über einen verwilderten Garten drang sie in das verlassene Haus ein. Die Scheiben waren zersprungen und Bretter versperrten die Sicht ins Haus.

„Dieses Mal nicht, Sylwia.” Verwirrt blickte sie in das Gesicht des Mannes, den sie liebte. Jenes Mannes, dem sie vertraute. „Es gab so viele Verhaftungen in dieser Woche, ich will nicht, dass du das Paket holst.” „Aber~” Sie wollte protestieren. Seit fast einem Monat war sie sein Kurier und noch nie war etwas geschehen. „Shh. Ich werde untertauchen, die Stadt verlassen und mich verstecken. Sie suchen mich.” „Lass mich mit dir gehen.” „Nein, es ist zu gefährlich. Bleib im Haus deiner Eltern, dort bist du sicher. Es wäre zu auffällig, wenn du jetzt verschwindest.”

Er drehte sich um und sie wusste, dass die Unterhaltung beendet war. Keine Widerrede würde er dulden und keinen Trost für sie haben. Das Herz lag ihr schwer in der Brust, als sie nach Hause zurückkehrte. Sie wusste nicht, ob es die richtige Entscheidung war oder ob sie hätte mit ihm gehen sollen. Als wäre sie nie weg gewesen, betrat sie ihr Zimmer und legte sich in ihr Bett.

Doch schon am nächsten Tag standen die Soldaten im Gasthaus ihrer Eltern. Aus den Augenwinkeln hatte sie sie sofort erkannt. Sie hörte ihren Namen fallen, als sich die Männer an ihre Mutter wandten. Sylwia sah die Angst, die sich auf ihrem Gesicht breit machte, spürte die Unsicherheit und das Widerstreben, ihre Tochter auszuliefern. Den Blick konnte sie nicht ertragen und so trat sie selbst hervor.

„Sie werden verdächtigt, dem Widerstand bei der Flucht geholfen zu haben. Sie sind verhaftet.”

Slywia fand kein Wort der Widerrede. Langsamen Schrittes folgte sie den Soldaten zur Tür. Ein Mann stand auf, Alfred – ein langjähriger Freund der Familie, und legte ihr seinen Mantel über die Schultern. Ein dankendes Lächeln schenkte sie ihm und hoffte, dass es nicht halb so gequält aussah, wie es sich anfühlte.

Man führte sie zum Kommandanten, der in einer der großen Villen der Stadt residierte. Nach außen gab es kein Anzeichen des Schreckens dessen, was sich im Inneren abspielte. Im Foyer standen exotische Pflanzen und das Licht war unnatürlich hell. Sie musste alles abgeben und ihre Taschen wurden durchsucht. Anschließend führte man sie eine Treppe hinunter in den Keller. Ihre Augen benötigten einige Zeit, eh sie sich an die vorherrschende Dunkelheit gewöhnt hatten.

„Dort hinein.”

Der Soldat deutete auf eine Zelle, deren Tür offen stand. Sie trat hinein und hörte, wie die Tür hinter ihr quietschend ins Schloss fiel. Der Schlüssel drehte sich im rostigen Schloss und die Schritte des Soldaten verhallten auf der Treppe. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an das spärliche Licht gewöhnt hatten und sie blickte sich um. Der ganze Keller schien aus kleinen Zellen zu bestehen, in denen bereits andere Menschen saßen.

„Sylwia, du auch?”

Sie erkannte die Stimme und blickte voller Angst in direkt anliegende Zelle. Auf der hölzernen Pritsche saß ihre Tante. Zaghafte Lichtstrahlen suchten ihren Weg durch die Kellerfenster und erleuchteten das vertraute Gesicht. Dunkle Flecke konnte sie auf der sonst so makellosen Haut erkennen.

„Wie lange bist du schon hier?” „Drei Tage lang. Jeden Tag holen sie mich zum Verhör.” Ihre Stimme klang schwach. In der Stille konnte Sylwia stumme Schreie hören. Gequält sickerten sie durch die dicken Wände. Zu ihrer Rechten lag ein Mann auf dem Boden, seine Kleidung getränkt von dunkler Flüssigkeit, die sich auf dem Boden ausbreitete. Ihr Atem stockte, als sie in ihm ihren Professor erkannte. Kraftlos lagen sie alle in ihren Zellen.

Es verging keine Stunde, als sie erneut Schritte auf der Treppe hörte. Die beiden Männer zerrten einen reglosen Körper mit sich, den sie in eine der Zellen auf der anderen Seite des Raumes sperrten. Dann traten sie zu ihr heran. „Du bist dran.”

Ein großer Tisch stand in der Mitte des Raumes. Die Sonne schien höhnisch durch das große Fenster und lachte ihr ins Gesicht. In dem Raum fanden sich keine Pflanzen, keine Bilder und auch sonst keine Möbelstücke. Nur ein großer Tisch auf dessen einer Seite drei und auf dessen anderer Seite ein Stuhl stand. Man bedeutete ihr, sich zu setzen und sie sah sich eines Hochgewachsenen Mannes gegenüber. Der schwarze Rahmen seiner Brille ließ seine Augen riesig wirken und unsicher senkte sie den Blick.

„Sie wissen sicher, warum sie hier sind. Wir suchen einen Mann, zweiundzwanzig Jahre alt. Er ist Student, hat dunkles Haar. Er ist Mietglied einer Untergrundbewegung.” Der Mann in der Uniform sprach in einer fremden Sprache zu ihr, doch neben ihm saß ein junger Mann mit braunem Haar, der für sie übersetzte.

Die Worte drangen in ihr Ohr. Die Männer waren nervös, sie wollten Informationen und sie wollten sie um jeden Preis. Er musste ein großer Fisch im Untergrund sein, eine wichtige Figur.

„Der Mann, das sollte das auffälligste an ihm sein, hat keinerlei Schneidezähne mehr.”

In ihr regte sich der Hass. Sie kannte die Geschichte, wusste, dass eben jene Soldaten sie ihm bei einem Verhör alle heraus gebrochen hatten. Sie musste ihn schützen, um jeden Preis – sonst wäre alles umsonst.

„Ich habe mich in ihn verliebt. Er hat im Gasthaus etwas gegessen, dort traf ich ihn, und habe mich verliebt.” Eifrig notierte der dritte Mann ihre Antwort.

„Dann können Sie uns sicherlich erklären, warum ihre Eltern nichts darüber wussten. Wo Sie sich doch in ihn verliebt hatten.”, übersetzte der junge Mann.

„Wir haben es geheim gehalten, da meine Eltern ihn nicht mochten. Er war ihnen suspekt.”, log sie. Ihre Blicker erhaschten hinter dem Rücken des Mannes einen Spiegel. Erschrocken musterte sie ihr Spiegelbild. Es war vollkommen blass, ihre Lippen rau und sie spürte, wir ihre Hände zu zittern begannen. ‚Hoffentlich schlagen sie mich nicht’, flehte sie innerlich.

Wieder und wieder stellte er seine Frage, doch sie gab ihm keinerlei Informationen zur Antwort.

Als sie zum dritten Mal ihre Antwort wohl überlegt hervorbrachte, raunte der Übersetzer dem Soldaten etwas zu. Sie verstand nicht, dass er darum bat, sie frei zu lassen, weil er sie für unschuldig hielt. Doch gleichwohl konnte ihr die Wut des Soldaten darauf nicht entgehen.

Es vergingen drei Tage, in denen sie sich dem Verhör stellte, doch nie gab sie ihnen das, was sie so sehr begehrten. Am vierten Morgen trieb man sie alle auf die Straße hinaus. Man trieb sie durch die Stadt und versammelte sie auf einem großen Platz. Die Nachricht hatte sich in der Stadt längst verbreitet und an den Straßen versammelten sich die Familienmitglieder der Gefangenen. Sylwia erkannte ihre ältere Schwester, die stark gestikulierend mit einem der Soldaten sprach. Sie kamen ihr näher und sie hörte ihre Worte.

„Lassen Sie mich für sie gehen. Sie wird es nicht überleben.”

Doch es gab kein entrinnen. Der Soldat willigte jedoch ein, ihr die Stiefel ihrer Schwester zu bringen und Brot von der Mutter. Schließlich scheuchte man sie, wie Vieh, auf einen LKW. Wohin die Fahrt ging, wussten sie nicht und Sylwia teilte in der beklemmenden Stille das Brot mit ihren neu gewonnenen Freunden.

One thought on “Verschleppt.

  1. Danke für den schönen Beitrag, der weckt doch die Hoffnung in mir, dass es noch wahre Liebe gibt und man seinen Liebsten oder eben seine Liebste nicht verraten muss, auch wenn man dafür einiges an Qualen in Kauf nehmen muss. Ich bewundere das junge Mädchen für ihre Tapferkeit, obwohl ich bezweifle, dass heute noch sehr viele Menschen so hätten handeln können, wie sie.

    Aber gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit regt diese Geschichte doch an, einmal darüber nachzudenken, ob wir uns selbst wirklich treu geblieben sind und morgens noch in den Spiegel schauen können oder eher nicht.

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