Das Licht meiner Fahrradlampe durchschnitt die Dunkelheit des Morgengrauens. Die Kälte stach mir durch die Fasern meiner Hose in die Haut. Mühsam zwang ich sie zur Bewegung. Alle Energie, die ich zu so früher Zeit aufbringen konnte, legte ich in meine Beine. Eine Umdrehung, noch eine Umdrehung. Ich hatte das Gefühl, zu stehen. In frostiger Luft verharrend, gegen den erbarmungslosen Sprint meiner Uhr ankämpfend. Ein Meter, noch ein Meter. Die Last auf meinen Rücken erschwerte jedes Vorankommen. Die Riemen zogen meine Schultern hinunter. Ein Haus, noch ein Haus. Das Gefühl wich aus meinen tauben Fingern, mein Gesicht war wie erstarrt. Eine Querstraße, noch eine Querstraße. Langsam löste ich meine Finger aus ihrer Starre und zog die Bremse an, nur ganz leicht und lies mein Rad bis zur Kreuzung rollen. Wie in Zeitlupe zogen Lichter an mir vorbei, schleichend auf glattem Grund. Der goldene Glanz der Straßenlaternen schimmerte auf den schwarzen Köpfen vor mir. Ein Auto, und noch ein Auto. Die Geräusche der metallenen Schlangen verklangen und sie boten mir einen Moment, um mich in ihre Reihen einzufinden. Vorsichtig stieg ich auf die Pedale und zwang mein Gefährt zur Bewegung. Die Zeit schien zu stehen. Ich drehte den Lenker, um mich in die Spur zu ordnen. Ein Stück, nur noch ein Stück. Plötzlich spürte ich, wie der Reifen auf dem Pflaster wegrutschte. In Sekunden fand ich mich auf der Straße wieder, spürte kaum die Nässe, die sich in meine Hose sog.
Auf der Gegenspur zog ein Auto vorbei. Es war dunkel und vor meinem inneren Auge sah ich bereits die verbogenen Reifen meines Rades. Spürte die Angst vor den Autofahrern, die in ihren warmen Metallkästen über die Straße fuhren. Langsamer als sonst, doch zu schnell für das Eis.
Unsicher kam ich wieder auf die Beine. Mit zitternden Händen versuchte ich mein Rad von der Straße zu holen. Da sah ich das Licht auf mich zukommen. Ein Autofahrer hielt neben mir. „Ist alles in Ordnung?“ Ich hatte die Situation noch gar nicht recht verarbeitet, noch nicht begriffen, dass ich Glück gehabt hatte. Ich zwang mich zu einem Nicken und er fuhr weiter. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ich hörte das Blut in meinen kalten Ohren rauschen. Der Schreck saß tief in mir und ich wagte es nicht, wieder auf zu steigen. Das Wasser der Pfütze, in der ich gelandet war, hatte mein linkes Bein vollkommen getränkt und ich spürte, wie die Feuchtigkeit meinem Bein die letzte Wärme entzog. Innerlich beglückwünschte ich mich dafür, an diesem Morgen eine schwarze Hose aus den Tiefen meines Kleiderschranks gewählt zu haben. Es war nicht mehr weit und ich entschied mich, die letzten Meter zu Fuß zu gehen. Doch es war noch früh, in den Häusern brannten kaum Lichter und noch kein Salz auf den grauen Steinen zu meinen Füßen. Ich hatte das Gefühl, das erste Mal auf Schlittschuhen zu stehen. Ein Schritt, noch ein Schritt. Neben mir lagen kleine Anhäufungen von Schnee. Er knirschte unter meinen Sohlen. Durch ihn gewann ich einen sicheren Gang, doch das Rad rutschte immer wieder zur Seite weg. Ein Meter, noch ein Meter. Ich hatte das Ziel bereits vor Augen. Andere Fahrradfahrer fuhren an mir vorbei. Ein Haus, noch ein Haus. Es war ein Wochentag wie jeder andere, ein Schultag und ein viel zu früher Morgen. Meine Hose war durchnässt, meine Finger taub und ich fror bis auf die Knochen. Es hätte schlimmer kommen können.
Eine sehr kurze Geschichte über einen Beinaheunfall, der sich im Winter 2005/06 ereignete. Interessanter Weise erfuhr ich später, dass der Autofahrer, der angehalten hatte, einer unserer Sportlehrer war, der sich vor seinem Kurs über den Unfall lustig gemacht hatte. Gut, dass ich nicht in seinem Kurs war, ich wär wohl sehr sauer gewesen. Doch auch meine Sportlehrerin machte passend zum Wetter Bemerkungen wie “Wenn man gut trainiert ist, dann kann man sein Gleichgewicht besser halten. Dann fällt man bei Glatteis nicht mit dem Rad.” Mit einem grimmigen Ausdruck habe ich da einfach weiter meinen Oberschenkel gerieben…
Ich dachte, die Geschichte passt vielleicht ein wenig zum Wetterumschwung vom Freitag und ist wieder eine kleine Übung, um Momente festzuhalten.
Liest sich ja wie in einem Roman :-)
Wow, großartig geschrieben!
Wir sind am Montag gerade von Oahu nach Maui gefahren, also von einer 30° warmen Insel auf die andere. Aber: In 3km Höhe (auf dem Haleakala) warnen die tatsächlich auch auf Hawaii vor Glatteis.