Das sonderbare Erbe.

Sie zog den Mantel enger und schlang die Arme um sich, schützend vor der Kälte, die sich leise in ihre Glieder und den Rücken hinauf schlich. Der Geruch von Apfel entwich dem frisch gebrühten Tee, den sie sich in dem kalten Café gegönnt hatte. Ihre Hände schlangen sich Wärme suchend um die Tasse, doch es war zu früh. Würde sie ihn jetzt trinken, würde sie sich die Zunge verbrennen. Kein Genuss, nur Schmerz wartete auf den ungeduldigen Geist. Und so schickte sie ihren kondensierenden Atem über die warme Oberfläche. Neben ihr das alte Papier ihres Großvaters, dass er ihr vererbt hatte. Vor einem Monat war die Beerdigung gewesen und sie hatte es nicht gewagt, das Papier anzurühren. Sie wollte es nicht vergeuden, wollte etwas Besonderes darauf zaubern. Worte, die so wunderbar waren wie die Geschichten, die ihr Großvater zu erzählen pflegte. In Gedanken erinnerte sie sich an späte Abende, als sie noch klein war und ihre Mutter bereits schimpfte, sie gehöre längst ins Bett. Andererseits hatte sie noch immer nicht verstanden, warum ihr Großvater ihr ausgerechnet dieses unbeschriebene Papier geschenkt hatte.

Ein Mann streifte hastig ihren Tisch und eilte hinaus in die Kälte. Ein kalter Schauer durchlief sie und ihr Blick fiel auf die noch immer geöffnete Tür. Knarrend scharrte der Stuhl zur Seite, als sie sich mit schneller Bewegung erhob, um die Tür zu schließen. Vor dem Café jagten feine Flocken vom Himmel hinab auf den mit einer weißen Decke überzogenen Boden. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und sie schloss ihren aufgefallenen Mantel, als sie sich erneut auf dem Stuhl niederließ. Die Farbe des Tees wurde allmählich dunkler. Prüfend legte sie ihre Hände um das einfache, weiße Porzellan und prüfte die Temperatur. Perfekt. Sie zog den Teebeutel hinaus und legte ihn auf dem Papiertütchen ab, aus dem sie ihn zuvor genommen hatte. Sie nahm einen großen Schluck. Er schmeckte sauer, zu sauer. Sie hatte erneut die Zeit vergessen. Das passierte ihr öfter bei Dingen, die ihr nebensächlich erschienen. Doch er verfehlte seine Wirkung nicht und so leerte sie in großen Zügen die Tasse bevor sie sich erneut dem Papier zuwandte.

Ihre Hände fuhren über die raue Struktur des alten Papiers. Es hatte eine marmorartige Struktur und sie befand, dass es einst sehr schön gewesen sein musste, bevor der Zahn der Zeit daran genagt hatte. Die Bögen waren vergilbt und an den Rändern reichte der Farbton gar bis in ein helles braun. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich ernsthaft, warum er ihr einen Stapel altes Papier vererbt hatte. Man konnte besseres sicherlich in jedem Schreibwarenladen finden. Ihre Schwestern hatten den Schmuck ihrer schon vor Jahren verstorbenen Großmutter bekommen, ihr Bruder etwas Geld für sein neu eröffnetes Unternehmen. Sie wusste, dass ihr Großvater nie viel besessen hatte, doch warum das Papier? Ihre Mutter hatte ihr gar geraten, es einfach wegzuschmeißen und sich nicht weiter den Kopf darüber zu zerbrechen. Doch sie konnte nicht glauben, dass es ebenso wertlos war, wie es auf den ersten Blick schien.

Sanft legte sie jeden Bogen einzeln zur Seite und betrachtete das Papier genau. An manchen waren die Ecken gar zerfranst und angenagt. Die Rückseiten wiesen ebenfalls die weiche Musterung auf. Sie überlegte, die Blätter zu zählen, doch verlor schon bar die Lust. Es mussten mindestens 50 Blätter sein. Es verging einige Zeit und das warm wohlige Gefühl des Tees in ihrem Bauch war längst verflogen, als sie enttäuscht auch das letzte Blatt wendete. Nichts, keine Notizen, keine Zeichnungen. Sie hatte nichts gefunden. Verdrossen schob sie das Papier zurück in ihre Tasche. Die Menschen mussten sie längst für verrückt halten. Eine Frau, die in der Ecke eines nahezu verlassenen Cafés saß und ein leeres Blatt nach dem anderen betrachtete. Kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende gedacht, kam eine Kellnerin am Tisch vorbei, stellte ihre leere Tasse auf ihr Tablett und lächelte sie mitleidig an. War sie so leicht zu durchschauen?

Sie wollte nicht, dass man sie gar für verrückt hielt und entschied sich, nach Hause zu gehen. Sie knöpfte ihren Mantel zu und zog die schnalle so eng es ging. Die weißen, mit einem Stern bestickten Handschuhe, die sie einmal von ihrer Großmutter bekommen hatte, streifte sie über ihre trockenen Hände. Die weiße Mütze über ihr braunes, durch das Wetter zerzaustes Haar. Mit dem Rucksack auf dem Rücken verließ sie das Café. Durch den Schnee fuhr kaum ein Bus und auch zu Fuß war es nur ein mühsames Vorankommen. Wie schon am frühen morgen, als sie das Haus verlassen hatte, fragte sie sich, warum sie nicht noch die warme Strickjacke übergezogen hatte. So schien die Kälter keinerlei Probleme zu haben, sich wie feine Nadeln in ihre Haut zu stechen. Ihr ganzer Körper zitterte vor Kälte und ihre Muskeln begannen von der unkontrollierten Bewegung zu schmerzen.

Als sie an dem Wohnblock ankam, in den sie vor einer Woche gezogen war, als sie es zu Hause nicht mehr ausgehalten hatte, wurde sie sich schmerzlich darüber bewusst, dass sie nun wieder allein war. Sie hatte das Café aufgesucht, um der tristen Umgebung ihrer spärlich eingerichteten Wohnung zu entgehen. Doch Menschen hatte sie dort kaum gefunden, die arbeiteten schließlich alle. Und die wenigen Besucher im Café waren Studenten auf der Durchreise für einen Kaffee. Sie stellte den Rucksack in die Ecke und legte ihren Hausschlüssel auf der Kommode ab. Mit einer ungeschickten Bewegung öffnete sie den Reißverschluss ihrer Stiefel und streifte sie zusammen mit Mantel, Hut und Handschuhen ab. In ihre kalten Hausschuhe schlüpfend ging sie in die Küche, um sich einen weiteren Tee aufzusetzen. Das Schneetreiben war noch stärker als zuvor und aus der Jagd war mittlerweile ein Tanz geworden.

Sie zündete sich eine Kerze an, um ein wenig ihre Einsamkeit zu vertreiben und holte erneut das Papier aus ihrer Tasche. Einige Ecken waren nun geknickt wegen ihrer unvorsichtigen Art. Verzweifelt strich sie sie glatt und ihre Augen füllten sich mit Tränen in Gedanken daran, dass sie das letzte Geschenk ihres Großvaters so zugerichtet hatte. Ein Klingeln riss sie aus ihren Gedanken und ließ sie aufschrecken. Sie sprang auf und ging zur Tür. Ein Blick durch den Spion zeigte das verzerrte Gesicht ihrer Schwester.

“Hallo Meggie.”, sagte sie fast flüsternd, als sich die Tür öffnete. “Kann ich rein kommen?” Meggie nickte und ließ ihre Schwester eintreten. “Möchtest du einen Tee?”, ihre Stimme wirkte eisig. “Gern.” Sie betrachten die Küche und Meggie und teilte das kochende Wasser auf zwei Tassen auf. Hinzu gab sie einen Teebeutel einfachen Früchtetees. Als sie sich umdrehte, sah sie, wie der Blick ihrer Schwester auf dem Papier ruhte. “Ach Meggie, hast du noch immer nicht aufgegeben? Es ist ganz normales Papier, nur ein paar Cent wert.”, hörte Meggie die ruhige Stimme ihrer Schwester, Wütend stellte sie die Tassen auf den Tisch. “Ist es nicht! Großvater würde nie wertlose Dinge verschenken. Ganz im Gegenteil, das ist das wertvollste Geschenk, dass ich je von ihm bekommen habe!”, rief sie in rage aus. Ihre Schwester zog eine braue hoch. Was ist daran so wertvoll? Die Bögen sind leer, ich weiß es. Mutter hat es mir erzählt.” “Sie kann sie nicht lesen.” “Nicht lesen?”, war die verwunderte Antwort. “Was steht denn auf den Bögen?”, hakte sie in spöttischem Ton nach. Meggie zögerte für einen Moment. “Es sind Geschichten. All seine Geschichten, die er immer erzählt hat.”, entgegnete sie nun mit gefasster Stimme. “Ach?” Sie griff nach dem Papier und durchblätterte die Bögen mit schneller, gefühlsloser Geste. “Lass das, du knickst nur das Papier!” “Das hast du ja scheinbar auch schon ganz gut ohne mich hinbekommen.”, entgegnete ihre Schwester kalt. Meggies Augen füllten sich erneut mit Tränen. “Was willst du überhaupt hier? Machst du dich über mich lustig? Verschwinde!” “Na na na, ich wollte dich eigentlich ein wenig trösten, da du s bedrückt schienst wegen dem Papier. Aber das scheint ja nun nicht mehr nötig zu sein.” “Nicht im geringsten.”, fauchte Meggie zurück und riss ihrem Gegenüber ihr wertvolles Papier aus den Händen. “Raus!” Ihre Schwester zögerte keinen Moment und verließ die Wohnung.

Als sie die Tür ins Schloss fallen hörte, sank Meggie auf ihrem Stuhl zusammen. Heiße Tränen rollten über ihre Wangen. Sie hätte sich so sehr gewünscht, auch nur eine der wunderbaren Geschichten ihres Großvaters auf dem Papier zu finden. Doch sie hatte gelogen, auch sie hatte nichts auf dem Papier gesehen. Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Das war es. Sie hastete aus der Küche zu ihrem Schreibtisch und kramte Stift und kariertes Papier hervor. Zurück in der Küche setzte sie sich über das alte Papier. Sie dachte an all die Geschichten und als ihr gar schwindelig wurde, von all den Wesen, die durch ihren Geist schwebten, konzentrierte sie sich. Sie setzte den Stift auf dem karierten Papier an und begann zu schreiben.

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